Genetisch steht der Steinbock auf wackeligen Beinen. Zwar leben in den europäischen Alpen mittlerweile wieder über 55.000 Tiere. Eindrucksvolle Zahlen, wenn man bedenkt, dass er Mitte des 20. Jahrhunderts schon als beinahe ausgestorben galt. Doch in keiner der 180 alpenweiten Kolonien des Steinwilds finden sich heute Geißen oder Böcke, die nicht miteinander verwandt wären.
"Egal ob sich ein Franzose mit einem Österreicher verpaart oder zwei Österreicher untereinander: Im Endeffekt sind’s so gut wie immer Cousin und Cousine",
bringt Gunther Greßmann das Problem auf den Punkt. Er ist im Nationalpark Hohe Tauern für die Steinwildforschung zuständig und europaweit einer der Experten wenn es um Capra ibex geht. Genau genommen – das schildert Greßmann ausführlich in seinem jüngst erschienenen Buch über den »Alpine Ibex am Großglockner« – sind alle heute lebenden Alpensteinböcke Italiener.
Der italienische König als Retter
Denn nach erfolgreichen Auswilderungsprojekten im 20. Jahrhundert (1911 in der Schweiz, ab 1924 in Österreich) gibt es heute auch wieder freilebende Kolonien in der Schweiz, in Österreich, Frankreich, Slowenien, sowie in Deutschland und Liechtenstein. Überall dort galt das Steinwild zwischen Anfang und Mitte des 18. Jahrhunderts als ausgerottet. Nur in Italien – im Gebiet des heutigen Nationalparks Gran Paradiso – haben die Tiere durchgehend überdauert. Absurderweise weil sie eine begehrte Jagdbeute der italienischen Könige waren, die schließlich sogar Wilderer in ihren Dienst stellten, um die Böcke erfolgreich vor Wilddieben schützen zu können.
Gefährdung durch "Mini-Genpool"
Der gesamte heutige Steinwildbestand geht auf jene 50 bis höchstens 100 italienischen Geißen und Böcke zurück, die mit viel Mühe und Aufwand streng behütet wurden. Genau das bereitet der Steinwildforschung nun in ganz Europa Sorgen. Denn: Je größer und vielfältiger die genetische Bandbreite einer Art, desto widerstandsfähiger ist diese und desto wahrscheinlicher wird, dass sie sich in einer ständig im Wandel begriffenen Welt bewährt.
Nichts anderes meinte Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie, mit seinem sprichwörtlich gewordenen "Survival of the fittest": Es überlebt, wer sich bestmöglich an neue Umwelt- und Lebensbedingungen anpasst. Für den Klimawandel und seine vielfältigen Auswirkungen gerade im Hochgebirge ist der Steinbock mit seinem "Mini-Genpool" (Greßmann) deshalb auch Jahrzehnte nach seiner Rettung vermutlich schlecht aufgestellt.
Hitzestress in warmen Wintern
Von schneearmen Wintern würde die ursprünglich aus kalten, trockenen Gebirgssteppen kommende Art theoretisch profitieren. Sie ist schlecht an Schnee angepasst und fühlt sich deshalb auf Hängen mit bis zu 70 Grad Gefälle wohl, weil Schnee dort nie lang liegen bleibt.
Praktisch bereitet ihr vor allem die Hitze Probleme: Mit seinem gedrungenen Körper, den kleinen Ohren und dem dicken Fell trotzt der Steinbock zwar Eis und Kälte. Warme Temperaturen machen ihm allerdings richtig zu schaffen. Er hat vergleichsweise wenige Schweißdrüsen und wurde schon früher als "Gletscherfolger" bezeichnet, der sich im Sommer zur Abkühlung in Gletscherregionen zurückzieht.
Neue Krankheiten, mehr Parasiten
Nun schmelzen nicht nur die Gletscher. Auch die Winter werden immer wärmer. "Noch sind Auswirkungen auf das Steinwild schwer wissenschaftlich nachzuweisen, noch geht es dem Steinbock so la la", sagt Gunther Greßmann, "aber ich wage zu behaupten, dass sich das künftig aufsummieren wird." Dass es auf hochalpinen Südhängen mittlerweile auch im Dezember oder Jänner tagsüber bis zu 10 oder 12 Plusgrade hat, könnte dem Steinwild bald endgültig den Garaus machen. Zumal die Erwärmung auch neue Krankheiten und neue Parasiten (etwa den Roten Magenwurm) ins Hochgebirge bringt.
"In der Evolution ist es immer ein Wettlauf des gegenseitigen Anpassens an Parasiten", sagt der Steinwildforscher. "Aber jetzt kommen die Krankheiten schnell, möglicherweise zu schnell. Und wie schnell sich das alles auswirkt, weiß man nicht." Hinzu kommt, dass die Wärme die Lebenszyklen der Parasiten verändert – es gibt mehrere Generationen pro Jahr als früher. Die Parasiten passen sich damit außerdem schneller an ihr ohnehin schon geplagtes Wirtstier an.
"Vielleicht stirbt er aus", sagt Gunther Greßmann und schluckt. "Momentan schaut es nicht sooo schlecht aus. Aber ich trau es mir nicht zu 100 Prozent ausschließen. Steinböcke könnten zu den Verlierern gehören."
Steinwild-Geißen wandern kaum, Böcke weit.
Vieles wird gerade erst erforscht, auch im Nationalpark Hohe Tauern. Aktuell hat man dort beispielsweise wieder Steinwild besendert. Derzeit vor allem Geißen. Aus vorangegangenen Forschungsprojekten ist bereits bekannt, dass die Böcke überaus mobil sind, teilweise hunderte Kilometer zwischen den Hauptaufenthaltsorten der Geißen zurücklegen.
"Die Geißen haben zum Rumwandern schlicht keine Zeit",
weiß Gressmann. "Sobald der Schnee weg ist, werden die Kitze gesetzt und dann zählt nur das Thema Sicherheit. Und dann liegt meist auch schon wieder Schnee. Deshalb stehen den kleinräumig lebenden Geißen Böcke mit riesigen Streifgebieten bis zu 14.000 Hektar gegenüber." Langzeitforschung soll nun zeigen wie sich durch klimatische Veränderungen die Einstände und Streifgebiete verändern. Wo sind die Tiere jetzt? Wo werden sie sich – sollte es sie dann noch geben – in vierzig, fünfzig Jahren aufhalten?
Selfie mit Todesfolgen? Run auf die Berge gefährdet Steinbock
Aber was außer Forschung und vor allem einem aktiven Einsatz für das Erfüllen der Klimaziele könnte dem Steinbock helfen? Wichtig wäre es, ist Forscher Greßmann überzeugt, den Tieren ihre Ruhe zu lassen und die Besucherströme in den Bergen zu lenken. "Vor allem die Böcke wirken auf den ersten Blick wenig störanfällig. Wir müssen uns aber fragen, was wir wahrnehmen und was im Tier bei Annäherung von Menschen ausgelöst wird, etwa dass es eine höhere Herzfrequenz hat."
Mittlerweile gäbe es einen derartigen Run auf die Berge und die Freizeitgesellschaft nutze die Bergwelt intensiv als Sportgerät – "samt Selfie mit Steinwild im Hintergrund" – dass das mit Sicherheit Auswirkungen auf die Tierwelt der Alpen habe. "Früher war Mitte/Ende Oktober bei den Wanderern Schluss am Berg", sagt Greßmann. "Jetzt sind auch Mitte Dezember viele Leute auf den Bergen und dann beginnt meist schon die Touren- und Schneeschuhwanderzeit, worunter auch das Wild leidet, das ohnehin schon Hitzestress hat."
Unsere Verhaltensänderungen mit zunehmenden Druck auf die Berge durch die Corona-Pandemie, meint Greßmann, setze den Wildtieren noch mehr zu. "Man denkt sich: Dort oben hab ich meine Ruh! Da treffe ich nicht viele Leute! Da bin ich sicher! Die Wildtiere am Berg aber beeinflusse ich aber – und ich sehe dabei gar nicht, was mein Verhalten bewirkt, denn Konsequenzen zeigen sich oft erst am Ende des Hochwinters."
Schonen könne die Tieren, wer beim Schitourengehen bei Abfahrten bewusst steile Rinnen meide. "Da mögen noch so verlockende Bedingungen für Tiefschneeabfahrten herrschen, aber gerade dort komme ich dem Steinbock oft unerwartet und bedenklich nahe."
BUCHTIPP:
"Steinwild am Großglockner" von Gunther Greßmann ist im Verlag Anton Pustet erschienen. Herausgeber des zweisprachigen Buchs (Deutsch/Englisch) sind der Kärntner Nationalparkfonds Hohe Tauern und die Steinwildhegegemeinschaft Großglockner.